Sich fallen lassen

 

Lieber Lubin,

 

immer wieder, vielleicht auch eher selten erleben wir einen Moment, in dem uns die Endlichkeit des Lebens  in unserem Körper bzw. der Verlust unseres Körpers bewusst wird. Es sind die Momente, wo wir uns erleben, ohne einen Körper oder uns als Ganzes bedroht fühlen, den Körper bedroht fühlen und dann wissen wir, wie schnell sich von einem Moment zum anderen alles verändern kann und unser Erleben hat nichts mehr mit dem zu tun, was vielleicht eine Stunde oder eine Minute zuvor war.
Es kann auch so schnell und blitzartig vonstatten gehen, dass wir uns keinen Moment eines Verlustes bewusst sind bzw., dass einer eintreten könnte, weil keine Zeit existiert in der Gedanken Raum finden.
Von einem Augenblick zum anderen kann sich alles so verändern, dass wir die ganze Welt neu sehen, neu betrachten, neu erleben.
In dem einen Moment sprühen wir noch vor Frische und Lebendigkeit und lachen der Welt ins Gesicht und im nächsten Augenblick sind wir stumm und wissen für einen Augenblick nichts mehr und gleichzeitig erleben wir alles. Wir müssen uns dann erst wieder im Körper einfinden bzw. die Verbindung mit ihm erleben. Und dann, ja was dann?

Es ist einfach anders, wenn wir ergriffen sind.....Wo Bewusstheit entsteht, wo sie aufblüht und sich ausdehnt verliert sich auch die Angst vor Verlust und Tod.
Ich denke gerade darüber nach, ob Du erfassen kannst, was ich versuche, mit Worten auszudrücken, um Dir etwas von meinem Erleben nahe zu bringen. Vielleicht ist es ja auch gar nicht wichtig und vielleicht interessiert es Dich auch nicht. Trotzdem, ich fühle, dass ich Dir darüber schreiben möchte.

Doch wie ich gerade jetzt darauf komme?
Ich war gestern im Wald nordic walking mäßig unterwegs mit einer Freundin zusammen.
Bei Sonnenschein sind wir bei ihr los. Als ich ging, war die Sonne für einen Moment weg und so entschloß ich mich, ein Jacke mitzunehmen.
Bei ihr sind wir etwas später bei strahlendem Sonnenschein losgegangen, denn die Wolken hatten sich wieder schnell verzogen. Da glaubte ich schon, Jacke mit Kapuze umsonst mitgeschleppt zu haben.
Es war eine wunderschöne Tour entlang der vielen Waldwege, gerade jetzt, wo der Frühling die ganze Erde aufgebrochen hat und es daraus in allen Farben und Formen sprießt und die Bäume schmücken sich mit ihren grünen Kleidern. Gezwitscher in allen Tönen dringt aus Ästen und Zweigen, so dass man meint, ein Wettstreit unter den Vögeln findet statt. Dieses dringt harmonisch und fröhlich in mein Ohr und berührt mein Herz. Ich fühle mich aufgenommen und getragen.
Doch dann begann es zu regnen, erst leicht mit vereinzelten Tropfen, doch es nahm schnell zu und der Himmel verdunkelte sich zusehends. Es dauerte nicht lange und heftiger Regen fiel nun auf die Erde herab über den die überall wachsende und sprießende Pracht sich sicher freute, doch wir in dem Moment nicht, überhaupt nicht. Es schien für uns eben der falsche Moment zu sein.
Ich zog meine Jacke an und stülpte mir die Kapuze über den Kopf. Doch meine Freundin  hatte keine Jacke mit. Der Regen wurde immer gewaltiger. So beschlossen wir, in den Wald hineinzugehen und uns unter den Blätterdächern Schutz zu suchen, auch wenn sie noch nicht dicht sind und man einfach keinen völligen Schutz finden kann.
So standen wir wartend zwischen Bäumen und Geäst Ausschau haltend, ob es eine bessere Stelle zum unterstellen geben könnte. Irgendwie hatten wir jedoch auch inzwischen Spaß dabei. Zwischen den Zweigen konnten wir auf den Weg schauen und sahen, wie ein paar Leute mit aufgespannten Regenschirm den Weg entlang gingen. Nanu, dachte ich, ich hatte noch nie einen Schirm im Wald mit, doch manche Leute sind da doch sehr vorsorglich.
So standen wir da und beobachteten den fallenden Regen und schauten  gen Himmel, ob sich Veränderungen abzeichneten, wohin die Wolken zogen und ob es heller wurde.

Plötzlich drehte ich mich irgendwie, vielleicht ungeschickt und rutschte auf dem nassen alten Laub, das aus den Blättern des letzten Jahres entstanden ist aus. Ich rutschte  weg  und fiel nach hinten. Es war nichts da, woran ich mich hätte aus dem Reflex heraus halten können. Ich schnippte nach hinten und fiel rücklings. Direkt hinter mir war der Stumpf eines abgesägten Baumes, doch schon etwas mit Moos bedeckt. Den hatte ich natürlich nicht gesehen und es hätte mir auch nichts genutzt.
Ein Stück fiel ich auf ihn (vielleicht auch direkt, ich weiß nicht mehr) und mehr nach hinten darüber hinweg.
Ich lag jedenfalls  hinter dem Baumstumpf längelang auf altem Laub und nasser Erde, auf Ästen und Zweigen und ich war stumm. Alles, was mich vielleicht noch Minuten zuvor bewegt hat, war verstummt und vergangen.
Nach einem Moment fragte mich meine Freundin besorgt nach meinem Empfinden. Ich sagte, „Es ist ist nichts, gar nichts! Mir tut nichts weh, gar nichts. -  Doch ich werde wohl jetzt total dreckig nach Hause gehen müssen.“ Ich befürchtete, dass ich durch die feuchte rutschige Erde und dem Laub die nasse Erde auf meiner Hose habe. Ich stand auf und meine Freundin hat mich dann von hinten begutachtet und gesagt, dass nichts dreckig ist, gar nichts.
Dann meinte sie noch, dass ich froh sein kann, dass ich so gelenkig bin, denn meine Beine wären  nach oben, nach hinten gleich mitgegangen.
Ich stand da kümmerte mich schon wieder um Äußeres, doch war im Grunde nur in mir bei dem, was mich berührte. Ich fühlte mich von einer mächtigen tiefen Stille durchdrungen und berührt.
Diese Berührung und Stille war so stark, dass selbst jetzt noch dieser Zustand anhält  und  mich dazu bewegt hat, das hier an Dich, lieber Lubin, zu schreiben.
Als wir dann weiter des Weges gingen meinte meine Freundin nach einer Weile zu mir: „Du hattest einen Schutzengel!“
Das Ereignis ist nur noch in meinen Gedanken, in meiner Erinnerung, die nichts mit dem Körper zu tun hat, wie er sich auch schon in der augenblicklichen Situation vollkommen spurlos angepaßt zu haben schien, dass nicht mal ein klitzekleiner blauer Fleck daran erinnert.
Es war einfach eine unerwartete, nicht berechenbare und vom Verstand her auch nicht folgerichtige Situation überraschend eingetreten, die einen Schrecken einflößte. Der Verstand  verlor in diesem Moment seine Macht und Kontrolle. Hätte er sie nicht verloren und wäre ich in dem Gedankenstrom vor dem Fall gewesen, wäre ich vielleicht sehr ungeschickt und der Situation unangepasst gefallen und hätte jetzt vielleicht Schmerzen.
Man könnte auch meinen, so ein Fallen ist doch nichts, denn wie viele Menschen fallen täglich. Manche tragen Blessuren davon und manche beachten es gar nicht, weil sie meinen, es ist nichts passiert und machen einfach weiter. Mancher hätte vielleicht einfach den Baumstumpf getreten und sich gesagt; „Blöder Baumstumpf!“ oder "Blödes Laub!" oder "Blöder Regen!" mit der Meinung, der oder das sei schuld und hätte so ein bisschen Wut rausgelassen und sich als Opfer gefühlt  Die Ursache scheint immer außer ihrer selbst zu liegen.
Doch mir ging es in jenem Augenblick ganz anders, noch jetzt.
Es war für den Bruchteil eines Momentes, die ganze Situation heilig, weil ich mich heil und ganz fühlte, verschmolzen mit etwas, das jenseits des Verstandes liegt.  Eingebettet in den Gesamtfluss und herausgerissen aus dem Bestehenden, aus dem Strom der Gedenken hinein in den gedankenlosen Raum, indem alles ineinander verwoben ist und doch alles klar, weil keine Form trennt.
Ja, es war nur der Verstand der zusammenbrach, von der Stille ausgelöscht  oder vielmehr und richtiger, erlosch die Identifikation mit dem Verstand mit allem.
Das, was größer ist als der Verstand, das was auch den Verstand geschaffen hat, weiß auch immer, was am besten für uns ist.
Es zeigt uns auch immer wieder, was die eigentliche Kraft ist, die uns führt, die was bewegt und je besser und vertrauensvoller wir uns in diese Kraft einfach fallen lassen, desto besser kann sie uns führen. Sie ist grenzenlos, anders als der begrenzte Verstand, der immer nach dem Grenzenlosen strebt ohne es je zu erreichen.  Lassen wir uns von begrenzten Gedanken führen, indem wir sie festhalten, dann stoßen wir immer wieder irgendwo an und verletzen uns, haben das Gefühl, irgendwo festzustecken, was falsch zu machen oder denken, andere machen etwas falsch.
Der Verstand ist wie die Software für den Computer. Er kann nur die Programme abspielen, die er kennt, die installiert sind.
Der Verstand ist eben ein Werkzeug, der verschieden angewendet werden kann, doch das was höher ist und auch älter und mehr erfahren hat, muss den Verstand lenken und führen und das tut es auch und uns geht es gut damit, solange wir uns nicht mit dem Verstand identifizieren mir deren Folgen, denn in dem Moment geben wir die Macht ab, verlieren die Bewusstheit für unsere Größe, für das Wesentliche, für das Wesen  das wir sind durch Unbewusstheit.
Die Stille nicht verlassen, darin besteht die Kunst des Lebens in Harmonie und Einklang.

Dann fühle ich auch, dass das, was wir lieben uns auch trägt, unabhängig von Gedankenformen und Erscheinungen.
Lubin, das was größer ist als der Verstand, weiß ganz genau, warum ich Dir das jetzt schreibe. Der Verstand kann immer nur in etwas, das gerade geschieht, etwas hineininterpretieren, entsprechend dessen, was in ihm gespeichert ist mit seinen Kombinationsmöglichkeiten, mehr nicht. Es ist ein schönes Spiel und da, dass wir Freude und Spaß haben können, dass wir die Vielfalt, die der Einheit entspringt erleben können und an ihr wachsen und reifen und uns finden, uns finden.

 

Liebe Grüße
Malina

 

 

 

 

„Kümmere dich nicht um zweitrangige Dinge,
denn die kannst du ändern,
aber dadurch ändert sich nichts.
Ändere das Wesentliche.“ S.153

 

Osho
„Vom Leben und vom Sterben“
Allegria Verlag

 


"Entfaltung ist wie das Aufblühen
einer Blume, wir haben mit
dem Willen keine Macht darüber."

 

Peter Lauster
"Lebenskunst"



„Selbsterkenntnis bedeutet das völlige Verschwinden des Egos. Und mit dem Ego verschwindet alles andere.“ S.362

Osho
„Das Buch vom Ego“


"Wenn ich die Unsicherheit akzeptiere und annehme, dann stehe ich mir selbst am nächsten."


Peter Lauster
"Lebenskunst"



Intelligent zu leben bedeutet, meditativ zu leben.“ S.41

Osho
„Das Blaue Meditationsbuch“
Goldmann Verlag









 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

        

 

 

 

 

 

 

 

 

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